Pyramus und Thisbe

pyramus01.jpgvota tamen tetigere deos, tetigere parentes; nam color in pomo est, ubi permaturuit, ater, quodque rogis superest, una requiescit in urna. (Ovid)

„Schlag ihn dir aus dem Kopf! Er ist ein Taugenichts und ein Tunichtgut, und er ist nichts für dich! Ich will, dass du ihn nie wieder siehst! Geh ihm aus dem Weg!“ Thisbe wich ängstlich zurück. Noch nie hatte sie ihren Vater so aufgebracht erlebt. Sie wusste, Widerspruch war jetzt nicht möglich, und aufgewühlt lief sie auf ihr Zimmer. Ach, wenn ihr Vater doch nur wüsste, wie sehr sie Pyramus liebte! Warum konnten nicht endlich alle diese Liebe begreifen, ganz gewiss würde eine solch große Liebe sogar ein steinernes Herz wie das seine erweichen. Aber sie wusste auch: Bitten und Flehen war zwecklos, ihr Vater würde keinesfalls zulassen, dass sie mit dem Sohn seines gehassten Nachbarn zusammenkam, und ebenso wenig würde Pyramus‘ Vater jemals seinen Segen geben.

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Jan und Griet

Jan und Griet (nach einem Aquarell von Josef Passavanti)Mit ihren weizenblonden Zöpfen war Griet wirklich eine Schönheit. Ihr rosiger Teint und die strahlenden Augen passten wunderbar dazu. Jan ließ den Eimer mit Futter für die edlen Pferde des Guts Schlenderhan sinken und blickte der hüftenschwingenden Magd noch lange nach. Wenn sie nur ihre Nase nicht so hoch tragen würde! Jan hatte Griet schon hundertmal gefragt, ob sie ihn am Wochenende zum Tanzen auf den Dorfplatz begleiten wollte. Das idyllische Dörfchen Büttgen hatte trotz Kriegswirren nicht von dieser schönen Sonntagstradition abgelassen. Aber Griet lachte jedes Mal nur glockenhell auf: „Mit dir, Jan? Was denkst du nur? Glaubst du, dass mir deine dunklen Augen und deine kräftigen Hände genügen? Was ich brauche, das ist ein feiner Herr. Das entspricht mir wohl. Einer, der nicht in Diensten steht. Jemand, der mir etwas bieten kann!“

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Karl und Ida

manesse.jpgdū bis mīn, ich bin dīn …
des solt dū gewis sīn;
dū bis beszlozzen in mīnem herzen,
dū muost och immer darinne sīn.

(unbek. Dichterin, 12. Jhd.)

„Du bist nur ein rechtloser unehelicher Bastard und hast kein Recht, hier im Palast zu wohnen!“ Plektrudis, die hoch gewachsene Witwe Pippins, schleuderte die Worte in Richtung des halbdunklen Erkers, in dem eine stämmige Gestalt zu erkennen war. „Mich hat dein Anblick schon immer angewidert! Erinnerte er mich doch stets an den Treuebruch meines Gatten. Wie konnte er mir diese Schande nur antun. Jetzt liegt er begraben in der Gruft der Karolinger. Er war ein guter Hausmeier. Gewiss. Und hat hier in Köln eine strenge, aber gerechte Hand gehabt. Es hat uns Jahre gekostet, die Herrschaft in dieser ehemaligen Römerstadt aufzubauen. Und der Palast hier …“ Mit einer ausladenden Geste deutete sie rings umher auf die mächtigen Steinmauern, an denen wertvolle Tapisserien hingen.

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