Pyramus und Thisbe

pyramus01.jpgvota tamen tetigere deos, tetigere parentes; nam color in pomo est, ubi permaturuit, ater, quodque rogis superest, una requiescit in urna. (Ovid)

„Schlag ihn dir aus dem Kopf! Er ist ein Taugenichts und ein Tunichtgut, und er ist nichts für dich! Ich will, dass du ihn nie wieder siehst! Geh ihm aus dem Weg!“ Thisbe wich ängstlich zurück. Noch nie hatte sie ihren Vater so aufgebracht erlebt. Sie wusste, Widerspruch war jetzt nicht möglich, und aufgewühlt lief sie auf ihr Zimmer. Ach, wenn ihr Vater doch nur wüsste, wie sehr sie Pyramus liebte! Warum konnten nicht endlich alle diese Liebe begreifen, ganz gewiss würde eine solch große Liebe sogar ein steinernes Herz wie das seine erweichen. Aber sie wusste auch: Bitten und Flehen war zwecklos, ihr Vater würde keinesfalls zulassen, dass sie mit dem Sohn seines gehassten Nachbarn zusammenkam, und ebenso wenig würde Pyramus‘ Vater jemals seinen Segen geben.

Pyramus und Thisbe kannten sich schon seit ihrer Kindheit, schließlich grenzten die vornehmen Häuser ihrer Eltern im Herzen von Babylon direkt aneinander, unweit der prächtigen, mit glasierten Ziegeln verzierten inneren Stadtmauer, die die Königin Semiramis zwanzig Jahre zuvor hatte erbauen lassen. Es war eine ausnehmend schöne Wohnlage – wenn Thisbe aus dem Fenster schaute, konnte sie hinter dem lebhaften Treiben des Marktes die kunstvoll gestaffelten Terrassen der hängenden Gärten sehen, und weiter weg spiegelte sich die Sonne schillernd in den farbigen Kacheln der Stadttürme, die wiederum alle überragt wurden von dem Turm zu Babel, an dem die Babylonier nach Thisbes Erinnerung schon immer gebaut hatten und wohl auch immer weiter bauen würden. Ein hölzerner Kran auf seiner Spitze kündete weithin von der kühnen Baustelle.

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Babylon zur Zeit von Pyramus und Thisbe.

Mit den Jahren war Pyramus zu einem attraktiven und stattlichen Jüngling herangereift, und Thisbe hatte sich zu einer atemberaubenden Schönheit entwickelt, mit langen, seidigen schwarzen Haaren, tiefroten Lippen und mandelbraunen Augen, in denen sich die ganze geheimnisvolle und verführerische Welt des Orients widerzuspiegeln schienen. Ohne dass sie je darüber gesprochen hätten, fühlten beide, dass sie füreinander bestimmt waren, und während der Turmbau zu Babel Meter für Meter in den Himmel wuchs, wuchs ihre Liebe füreinander im gleichen Zeitraum ins Unermessliche. Trotz der feindlichen Einstellung ihrer Eltern fanden sie immer wieder Mittel und Wege der Verständigung: hier ein heimliches Nicken auf der Straße, da ein Winken durchs Fenster, dort ein durch die Luft zugeflogener Kuss.

Eines Tages entdeckte Thisbe bei ihren Streifzügen durchs elterliche Haus einen Riss in der Wand einer ungenutzten Vorratskammer, und sie gewahrte einen Lichtschein, der durch den Riss in die dunkle Kammer fiel. Es war die Wand zum Nachbarhaus, wurde ihr klar. Sollte vielleicht …? Sie beschloss, es zu wagen. „Pyramus“, flüsterte sie durch den Riss. Stille. Nochmals, etwas lauter: „Pyramus!“ Wieder nur Stille von drüben. Gerade schickte sie sich zum Gehen an, da hörte sie eine Stimme antworten: „Thisbe!“ Seine Stimme! In Thisbe toste ein Sturm der Gefühle. So nah war er, und doch so fern! Sie flüsterten sich innigste Schmeicheleien und heiße Liebesschwüre zu, und in den nächsten Wochen liebte und hasste Thisbe diesen Riss in der Wand, der sie verband und doch gleichzeitig trennte.

pyramus03.jpg„Du neidische Mauer!“, sprach sie das eine oder andere Mal verzweifelt. „Was gibt dir das Recht, uns Liebende zu hindern? Was wäre denn dabei, wenn du dich weiter öffnen würdest, dass wir uns endlich in die Arme fallen könnten! Und tätest du dich doch nur ein wenig mehr auf, nur so weit, dass unsere Münder sich zum Kuss vereinen könnten!“

Pyramus musste nun doch schmunzeln, seine Thisbe so verbittert mit einer Mauer sprechen zu hören. Er ging auf das Spiel ein und richtete nun seinerseits das Wort an das – im Übrigen recht gleichgültige – Gemäuer: „Wir wollen nicht undankbar sein, oh Mauerwerk! Verdanken wir es doch dir, dass wir überhaupt miteinander sprechen können, ist es doch dieser kleine, gnädige Makel in deiner Bauweise, der meinen Worten den Durchgang zu den Ohren meiner Geliebten gestattet!“ Doch nicht nur Schmeicheleien und glühende, innige Worte der Liebe gingen durch den Mauerspalt hin und her, bald wurden auch konkrete Pläne geschmiedet. Sie legten die Nacht zum Zwölften im Monat des Augustus fest, um sich zu treffen. Niemand sollte sie beobachten, deshalb wollten sie sich nicht nur aus dem Haus stehlen, sondern weit vor die Tore der Stadt gehen. Aber wohin? Schließlich einigten sie sich auf das Grab des Königs Ninus von Assyrien, denn das kannten sie beide. Es war ein schöner, einsamer und friedlicher Ort, mit einer kühlen Quelle, die dort im Schatten eines großen Maulbeerbaumes mit weißen Früchten hell plätscherte, eine Quelle, die ihrer Liebesglut vielleicht Linderung verschaffen würde.

Am vereinbarten Abend wartete Thisbe lange, bis alles im Hause ruhig war, dann schlich sie sich hinunter und öffnete leise, ganz leise die Haustüre. Manchmal schaute ihr Vater oder ihre Mutter nochmals spät in ihr Zimmer hinein, aber warum sollten sie eine Schlafende wecken? Thisbe lächelte beim Gedanken daran, wie sie liebevoll mit Stroh und schwarzem Rosshaar das Bett so hergerichtet hatte, dass es bei flüchtigem Blick im Halbdunklen so aussah, als läge sie darin. Das Gesicht mit einem Schleier verhüllt und ihren schlanken Körper in einen einfachen Umhang gewandet, sah sie nicht anders aus wie eine Magd, die vielleicht spät von der Arbeit noch unterwegs war. So sahen auch die ins Würfelspiel vertieften Torwachen nur kurz auf, als sie durch das Nordtor durchhuschte.

Schon bald hatte Thisbe den Hügel mit dem Grab erreicht. Sie fürchtete sich nun doch ein wenig – im fahlen Licht des Mondes sah alles so geisterhaft aus! Da! War da nicht ein Geräusch? Weit weg sah sie einen Schatten … war da schon Pyramus nachgekommen? Doch dann schaute sie nochmals hin und erstarrte. Es war ein Tier – eine Löwin! Und sie kam genau auf die Quelle zu! Thisbe erstarrte … doch dann kam Leben in sie und sie setzte sich leise in Bewegung. Die Löwin kam näher, beachtete das junge Mädchen aber nicht weiter, sondern trank gierig von der Quelle. Thisbe sah mit Schrecken verkrustetes Blut an ihrem Maul. Dann beobachtete sie, wie die Löwin spielerisch etwas mit dem Maul aufnahm, was auf dem Weg lag. Ihr Schleier! Sie musste ihn verloren haben. Die Löwin knurrte leise und suchte sich von dem lästigen, unnützen Stoff wieder zu befreien, wobei sie den Schleier zerfetzte. Thisbe beschloss, nicht länger abzuwarten, was das Tier als Nächstes plante. Sie eilte davon und zog sich tief in eine nahe gelegene, weit verzweigte Höhle zurück.

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Thisbe auf der Flucht vor der Löwin (Johann Wilhelm Baur, 1703).

Pyramus ging erregt und freudigen Herzens den mondbeschienenen Weg entlang. Endlich würde er seine geliebte Thisbe in die Arme schließen können! Er stellte sich vor, wie er ihr Gesicht, ihre Hände über und über mit Küssen bedecken würde, und sein Herz machte einen Sprung, als er schon den Maulbeerbaum sah und die Quelle plätschern hörte. Doch – wo war Thisbe? Und was war das? Da lag etwas auf dem Weg … es war, wie Pyramus mit steigendem Entsetzen sah, ein Schleier, Thisbes Schleier – oder eher das, was von ihm übrig war: ein blutbefleckter, zerrissener Fetzen Stoff. Ein gequälter Aufschrei entrang sich seiner Brust, und er rief:

„Oh unheilvolle Nacht, die du zwei Liebende vernichtet hast! Und Unheil über mich! Ich habe dich, Thisbe, getötet. Habe ich dich doch geheißen, hierher zu kommen, in diese Gegend voller Gefahren, und habe ich dir doch nicht beigestanden in der Stunde der Gefahr! Oh all ihr Löwen, zerreißt meinen Körper, verzehrt die Eingeweide des Frevlers mit wilden Bissen! Aber es wäre ängstlich, den Tod nur zu wünschen …“

Mit diesen Worten nahm Pyramus die kläglichen Überreste des Schleiers und ging in den Schatten des vereinbarten Baumes. Er weinte und küsste das Tuch, doch dann wurde sein Blick entschlossen und seine Miene steinern. „Nun trinke auch mein Blut!“ Mit diesen Worten zog er sein Schwert und stieß es sich tief in den Leib. Der Schmerz war, als wenn eine heiße Flamme durch seinen Körper raste, mit letzter Kraft zog er das Schwert wieder aus der Wunde, dann sank er unter den Baum. Er blickte auf die tief hängenden Zweige des Baumes mit den weißen Früchten, und er sah, wie das Blut aus der klaffenden Wunde hochspritzte und die Früchte rot färbte. Er dachte noch, es sieht aus wie ein schadhaftes Bleirohr, aus dem das Wasser zischend herausspritzt … dann verlor er das Bewusstsein.

Thisbe hatte lange in der Höhle verharrt, doch endlich dachte sie, nun sei’s genug, und sie ging raschen Schrittes zur Quelle zurück. Doch wo waren die weißen Früchte, die ihr vorher noch aus dem Maulbeerbaum im Mondlicht entgegengeleuchtet hatten? Da waren Früchte, ja … aber sie waren von dunklem Purpurrot! Thisbe eilte schnell näher, und erbleichend sah sie: Unter dem Maulbeerbaum lag eine Gestalt, die sich noch bewegte – die zuckte – und überall war … Blut, Blut, Blut!

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Thisbe findet Pyramus (Impression nach einem Gemäldedetail von Nicolas Poussin).

„Pyramus!“ Thisbe hatte nun ihren Geliebten erkannt und umarmte den geschundenen und doch so geliebten Körper, nicht achtend auf das viele Blut, das bald ihre Hände, ihr Gewand und ihr Gesicht verschmierte. Sie küsste ihn, und ihre Tränen fielen in seine Wunden, wo sie sich mit seinem Blut vermischten. „Pyramus! Welches Unglück hat dich mir entrissen? Pyramus, antworte! Mein Liebster, deine Thisbe ruft dich. Bitte, antworte mir doch …“

Doch Pyramus antwortete nicht mehr. Einmal noch schlug er seine Augen auf, mühsam, denn der Tod drückte ihm schon die Lider zu. Einmal noch sah er seine Thisbe, und in diesem einen Blick lag alle Verzweiflung, alle Trauer, aber auch alle Liebe dieser Welt. Dann schloss er die Augen für immer und trat seine Reise in das Reich der Toten an.

Thisbe saß lange da, den Kopf ihres toten Liebsten auf ihrem nun blutdurchtränkten Schoß. Lange saß sie einfach da und streichelte immer wieder über sein Haar. Auf dem Weg sah sie den unseligen Schleier liegen, gleich daneben die elfenbeinerne Schwertscheide. Das blutige Schwert hatte Pyramus noch in seiner erstarrenden Hand. Langsam, wie in Trance, löste sie den Schwertgriff aus seinen klammen Fingern und sprach:

„Deine Hand und deine Liebe haben dich zugrunde gerichtet, Unglücklicher! Auch ich habe eine Hand, die solches wagt, auch ich liebe dich, und diese Liebe wird mir die Kraft geben, mir Wunden zuzufügen. Ich folge dir nach, auch wenn man mich allerärmste Ursache und Begleiterin deines Todes nennen wird. Der Tod hat uns getrennt, aber der Tod wird uns auch wieder vereinigen. Und ihr Väter! Meiner und seiner! Missgönnt nicht, dass diejenigen, die eine feste Liebe und eine Todesstunde verband, zusammen bestattet sein werden! Und möge dieser Baum die Zeichen des Blutes bewahren und stets dunkle Früchte tragen, als Andenken an unser zweifach vergossenes Blut.“

Nach dieser Rede nahm Thisbe das Schwert und setzte die Spitze unterhalb ihrer Brust an. Sie spürte, wie das von Pyramus‘ Blut noch warme Metall in ihre Haut hineinritzte, und erschauerte. Sie blickte noch einmal auf Pyramus, der zu ihren Füßen friedlich, fast wie nur schlafend, lag … und warf sich mit aller Kraft und Gewalt ins Schwert.

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Der Tod der Thisbe (nach einem Gemälde von Abraham Hondius).

Thisbes Bitten aber hatten die Götter und die Väter gerührt. Denn bis heute sind die Früchte des Maulbeerbaums, sobald sie reif sind, von einer dunklen, rotschwarzen Farbe; und bis heute ruht die Asche der beiden Liebenden in einer gemeinsamen Urne.

Die Geschichte von Pyramus und Thisbe stammt im Original von Ovid und ist im vierten Buch seiner »Metamorphosen« nachzulesen. Der lateinische Originaltext mit genauer Übersetzung findet sich unter anderem auf der Site „Imperium Romanum“. Beim hier vorliegenden Text handelt es sich um eine recht freie Nacherzählung mit teils hinzuerfundenen Elementen.