Karl und Ida

manesse.jpgdū bis mīn, ich bin dīn …
des solt dū gewis sīn;
dū bis beszlozzen in mīnem herzen,
dū muost och immer darinne sīn.

(unbek. Dichterin, 12. Jhd.)

„Du bist nur ein rechtloser unehelicher Bastard und hast kein Recht, hier im Palast zu wohnen!“ Plektrudis, die hoch gewachsene Witwe Pippins, schleuderte die Worte in Richtung des halbdunklen Erkers, in dem eine stämmige Gestalt zu erkennen war. „Mich hat dein Anblick schon immer angewidert! Erinnerte er mich doch stets an den Treuebruch meines Gatten. Wie konnte er mir diese Schande nur antun. Jetzt liegt er begraben in der Gruft der Karolinger. Er war ein guter Hausmeier. Gewiss. Und hat hier in Köln eine strenge, aber gerechte Hand gehabt. Es hat uns Jahre gekostet, die Herrschaft in dieser ehemaligen Römerstadt aufzubauen. Und der Palast hier …“ Mit einer ausladenden Geste deutete sie rings umher auf die mächtigen Steinmauern, an denen wertvolle Tapisserien hingen.

„Was glaubst du, wer all dies hier mit aufgebaut hat! Dein Vater hätte es allein nie so weit gebracht. Und du glaubst doch nicht, dass ich freiwillig bereit bin, meinen Anspruch auf die Macht an dich zu übergeben. Solange ich noch Urkunden unterschreiben kann, werde ich hier herrschen und die Beziehungen nach Burgund aufrechterhalten. Sollte ich schwächer werden, kann ich immerhin den Nachfahren meines geliebten, viel zu früh verstorbenen Sohnes zum Hausmeier machen! Ich habe die Macht, dies zu tun! Und du kommst mir nicht in die Quere! Wachen – ergreift ihn!!!!!“

Karl versuchte gar nicht erst, sich zu wehren. Er wusste, die Boshaftigkeit seiner Stiefmutter hatte die braven Soldaten seines Vaters fest im Griff. Mit wachsender Sorge hatte er nach den Beerdigungsfeierlichkeiten gesehen, wie sie immer wieder die Anführer zu sich hatte kommen lassen und diese mit starrem Blick ihre Gemächer wieder verließen.

karl_martell.jpgKarl Martell war seit seiner Geburt im Jahre 686 im Palast auf dem Kapitolshügel zu Köln aufgewachsen. Solange seine Mutter noch die Geliebte des fränkischen Hausmeiers Pippin der Mittlere war, ging es ihm auch wirklich gut. Sein Vater mochte ihn und nahm ihn immer wieder mit zu Reisen durch Germanien. Er fühlte sich ihm ebenbürtig, seinem Vater, dem mächtigen Hausmeier, der sicher einmal zur Krone greifen würde.
Die Welt der mächtigen Merowinger und Karolinger war durch ständige Kriege und nachfolgende Verhandlungen aus den Fugen geraten. Wenn Karl geahnt hätte, dass er einmal vom rechtlosen Herrschersohn zum mächtigsten Mann Europas aufsteigen würde, dann hätte er sich wahrscheinlich nicht so respektlos in das dunkle Verlies im Palastkeller stoßen lassen. So fühlte er sich mit einem Mal hundeelend und von allen Menschen verlassen. Er vermisste seinen Vater, der stets ein Vorbild für ihn gewesen war. Wie imposant und mächtig er immer vom erhöhten Steinsitz aus die Festgesellschaften betrachtet hatte! Pippin war aus dem edlen Geschlecht der Arnulfinger und ein hoch angesehener Mann gewesen.
Karls Gedanken schweiften ab. Er dachte an die Lautenmusik und die köstlichen Fleischpasteten, die man zu Ehren des Hausmeiers extra aus Frankreich herbeigeschafft hatte. Und er dachte an die gertenschlanken und anmutigen Mädchen aus dem Gefolge der Herrscherin. Besonders eine hatte seine Blicke auf sich gezogen. Ida. Ein hübsches, zurückhaltendes Mädchen und Mündel der strengen Plektrudis. Ja, Karl war ihr wirklich sehr zugetan gewesen. Merkwürdig nur: In letzter Zeit hatte er sie kaum gesehen, wenn Plektrudis mit ihren Zofen durch die Gänge eilte. Konnte es sein, dass die herrische Frau von seiner Zuneigung Kenntnis erlangt hatte? Er hatte sich doch niemandem anvertraut. Aber dieser Plektrudis war alles zuzutrauen.

Karl fühlte sich matt und ihn schwindelte. Nur nicht den Mut verlieren!, dachte er sich. Es wird sich schon eine Lösung finden! Mit einem alten Lied, das ihn seine Mutter gelehrt hatte, machte er seinen Sorgen ein wenig Luft.

Ida schluchzte in die Seidenkissen, die ihren riesigen Diwan bedeckten und die ihre Tante ihr aus Byzanz hatte kommen lassen. Ja, Tante Plektrudis tat alles für sie. Aber niemals nahm sie ihr Mündel in den Arm und Ida fühlte sich in dem großen kalten Palast des Hausmeiers Pippin manchmal sehr verloren. Allerdings gab es da jemanden, bei dessen Anblick sie jedes Mal ein warmes Gefühl im Bauch verspürte. Mit seinen schönen geschwungenen Lippen und den blonden Locken war Karl hübscher als die etwas groben Söhne aus Pippins Ehe mit Plektrudis. Jeder wusste, dass er aus einer Friedelehe stammte. Aber er war trotzdem stolz und blickte jeden freundlich und aufrecht an.

Ob ihre Tante gemerkt hatte, wie sie Karl Martell während der Festgelage immer anstarrte mit glühenden Wangen? Auf jeden Fall wurde ihr plötzlich verboten, an den öffentlichen Feierlichkeiten teilzunehmen. Tante Plektrudis begründete dies mit dem Schutz ihrer Schönheit vor den oftmals derben Sprüchen der rauen Kampfgefährten Pippins. Sie fühlte sich jedoch nicht wohl. So eingesperrt und ohne Kontakt zu ihren Gefährtinnen. Deswegen hatte sie ihre Tante gebeten, ihr zumindest eine Stunde im Palastgarten zu gewähren. Sie wollte ein wenig spazieren gehen.

„Ida! Wenn es nun also dein dringender Wunsch ist, dies zu tun, so erlaube ich es dir heute ausnahmsweise!“
„Oh, Tante, geliebte Tante. Wie sehr ich mich freue! Ich hole sofort meinen Schal und werde mir mein Stickwerk mit hinausnehmen. So unterhalte ich mich selbst ein wenig.“ Beschwingt tänzelte Ida um ihre Tante herum, raffte ihre Stickutensilien zusammen und verschwand durch die Tür, ehe es sich die gestrenge Tante anders überlegen würde.

Tief atmete Ida durch und genoss den lieblichen Duft der wilden Rosen, die hier die Mauern säumten. Sie lenkte ihre Schritte zu einem kleinen Brunnen, der schon lange nicht mehr in Benutzung war, aber einen wunderbaren Sitzplatz abgab. Als sie sich näherte, hörte sie mit einem Mal einen dunklen warmen Singsang, der eindeutig aus dem Brunnen heraus zu ihr drang. Allen Mut zusammennehmend, beugte sie sich über die Brüstung und rief: „Hallo! Ist da jemand?“ Das Singen verstummte.

„Hallo! Antwortet, wenn ihr da unten seid!“
„Jaaa … Wer will das wissen?“
„Ida. Das Mündel der Herrscherin! Antwortet! Sofort! Sonst hole ich die Wachen!“
„Nein! Nicht! Ida, ich bin’s! Karl! Karl Martell!“

Ida stieß einen spitzen Schrei aus und wollte davonrennen. Zu schaurig. Wie konnte Karl da unten sitzen?
„Deine Tante hat mich gefangen nehmen lassen. Sie will mir meine Rechte streitig machen. Ida, süße Ida. Kannst du mir bitte helfen?“

Idas Herz klopfte bis zum Hals. Ihr war ganz anders. Karl. Der liebe gute schöne Karl! Gefangen? Im Verlies? Von ihrer Tante eingesperrt?
„Karl. Geht es dir gut?“

„Ja. Aber ich muss hier heraus. Wenn du mir hilfst, werde ich immer in deiner Schuld stehen. Wie ich sowieso schon die ganze Zeit in der Schuld deiner Schönheit, deines sanften Blickes, deiner weißen Arme, deiner zarten Rundungen stehe! Ida, ich liebe dich schon, seit ich dich das erste Mal sah. Und nun lauf schnell zu Bruno, meinem getreuen Knecht, und bitte ihn, ein Seil mitzubringen.“

Obwohl Ida nicht denken konnte und in ihrem Kopf eigentlich nur die Worte „Ich liebe dich“ herumschwirrten, brachte sie es dennoch zustande, ihre Füße in Richtung Stallungen zu bewegen. Mit wenigen atemlosen Worten erklärte sie dem staunenden Bruno, was zu tun sei. Sie war selbst erstaunt darüber, dass sie dies alles schaffte. Dann schwanden ihr jedoch die Sinne, und sie sank zu Boden.

Als sie wieder zu sich kam, blickte sie in die blauen Augen von Karl. Ihr Karl. Und ehe sie noch sprechen konnte, hatte er ihren Mund mit einem langen, zärtlichen Kuss versiegelt. Ida war glücklich. So glücklich, wie noch nie in ihrem ganzen Leben. Karl. Sie liebte Karl und er liebte sie! Welch eine Wonne. Auch wenn Karl gleich nach der geglückten Rettung aus dem Kerker davongeritten war. Ida wusste, er würde wiederkommen und dann würden sie Hochzeit feiern, Kinder kriegen und für immer glücklich sein.

Sie kehrte in ihre Gemächer zurück und verbrachte die meiste Zeit damit, das Lied, das Karl damals im Kerker gesungen hatte, vor sich hinzuträllern. Ihre Stickarbeiten wurden immer größer und aufwändiger. Bald hatte sie den ganzen Palast mit Kissenplatten eingedeckt. Und auch ihrer Tante begegnete sie mit einer heiter beschwingten Art, die diese so gar nicht verstehen konnte. Plektrudis war sowieso unendlich wütend. Wer hatte diesem Bastard aus dem Kerker zur Flucht verholfen? Zwischen Angst und Wut schwankten ihre Gefühle und sie brütete nächtelang darüber, was sie nun tun sollte. Plektrudis war eine intelligente Frau, die die ihr einmal übertragene Macht geschickt zu nutzen wusste, Ansprüche auf Gebiete zu verteidigen, zahlreiche Klöster und Besitztümer anzulegen und so auch ihren immensen Reichtum zu vermehren. Nur in den Beziehungen zu ihren Nächsten versagte sie. Zu ihren Kindern hatte sie kein gutes Verhältnis.

Und ihren Mann hatte sie nie wirklich geliebt. Kalt und beherrscht, hatte bei ihr stets das Streben nach Macht im Vordergrund gestanden. Deswegen ertrug sie es auch nicht, wenn jemand ihre Pläne durchkreuzte. Da sie nun so beständig darüber nachsann, was passiert sein könnte, kam sie auf die Idee, dass Idas gute Laune möglicherweise auch etwas mit dem Verschwinden Karls zu tun habe. Ihr Mündel, das man in ihre Obhut gegeben hatte, sollte aber auf keinen Fall in den Bann dieses Martell gelangen. Das wollte sie verhindern, koste es, was es wolle.
Immer mehr wurde ihr klar, dass Ida diesen Karl liebte. Sie hörte einmal auch heimlich ein Gespräch zwischen Ida und einer ihrer Zofen mit an, in welchem ihr Mündel in überschwänglichen Tönen von ihm schwärmte. So beschloss Plektrudis, ihrer Nichte einen Besuch abzustatten, bei dem sie alles wenden wollte. „Ida, mein liebes Kind! Komm einmal herüber zu mir. Setz dich. Sag einmal. Seit einigen Tagen sehe ich dich mit leuchtenden Augen, wenn die Herolde von den erfolgreichen Schlachten des Karl berichten. Kann es sein, dass dieser Mann dir am Herzen liegt?“

Schlacht von Poitiers
Die Schlacht von Poitiers 732 (Gemälde von Charles de Steuben, 1837).

Durch Ida ging ein Ruck. Jetzt war es so weit! Schon lange wollte sie der Tante von ihrer Liebe berichten. Sie sollte sie akzeptieren und besiegeln, dass sie heiraten sollten, sobald Karl wieder nach Köln kommen würde. „Karl ist mein Leben, liebste Tante. Ich zähle die Stunden, bis er wieder bei mir ist!!“

„Mein armes Mündel, liebstes Nichtchen, kleine Ida! Ich fühle Mutterliebe für dich und habe dich mit offenen Armen aufgenommen in mein Haus und in mein Herz! Mir fällt es unendlich schwer, dir das zu sagen, was ich dir nun sagen muss: Gerade eben erreichte uns die Nachricht, dass Karl Martell bei der Schlacht von Poitiers gefallen ist. Ida, Liebes … hörst du? Ida, was ist? Ida …!!!“

Mit einem ersterbenden Laut war Ida zu Boden gesunken. Sie hatte alles verloren, was ihr wichtig war, und wollte nicht mehr leben. Behutsam hoben die Zofen den leblosen Körper der Ida auf, legten ihn aufs Bett und verdunkelten die Fenster. So lag die arme Ida wenigstens zwei Wochen. In diesen zwei Wochen aß sie kaum und nahm nur ein wenig Wasser zu sich. Sie war schwach und man machte sich große Sorgen um sie. Immer wieder rief sie Karls Namen, wenn sie fiebernd in den Nächten lag. Eines Morgens jedoch erwachte sie und sagte nur diese wenigen Worte: „Ich nehme den Schleier!“

Sarkophag der Kirchengründerin IdaDas war das Ende der großen Liebe zwischen Karl und Ida. Karl war natürlich nicht tot und er wurde der Retter des Abendlandes. Ohne ihn wären wir vielleicht heute alle arabisch. Und Ida? Ida wurde Nonne, schrieb heilkundliche Bücher und kümmerte sich um die Armen und Waisen der Gemeinde St. Maria im Kapitol. Sie wurde hier auf dem ehemaligen Friedhof begraben, nachdem sie an den Folgen der Schwindsucht noch sehr jung gestorben war. Karl konnte nur noch ihr Grab finden, als er wieder nach Köln kam.

Anmerkung: Karl und Ida haben wirklich gelebt, allerdings in verschiedenen Jahrhunderten. Tatsächlich hat die Witwe Pippins des Mittleren ihren Stiefsohn in Köln ins Verlies geworfen. Wer ihm allerdings zur Flucht verhalf, das ist nicht verbürgt. Die Äbtissin Ida lebte im 11. Jahrhundert und war die Enkelin Ottos II. Sie initiierte als Benediktiner-Oberin den Bau der Kölner Kirche St. Maria im Kapitol.